Praxistest: Hobbykoch am Rande des Nervenzusammenbruchs - WELT

2021-11-29 08:38:54 By : Mr. Loki lee

"Tut das wirklich jemand?" Diese Frage stellte kürzlich ein Kollege, als das neue Kochbuch von Sven Elverfeld aus dem Drei-Sterne-Restaurant „Aqua“ in Wolfsburg auf dem Tisch lag. „Wahrscheinlich nicht“, war die Antwort, die zum Weckruf für ein Experiment wurde.

Sind diese immer dicker werdenden Wälzer wirklich darauf ausgelegt, eine Drei-Sterne-Küche für den Hausgebrauch zu illustrieren? Oder sind sie nur Egos, die in Bücher verwandelt wurden, die schwersten Visitenkarten der Welt?

Vielleicht erfüllen sie heute die Funktion von Programmheften im Theater. Sie können vorher sehen, was später auf der Bühne passiert, und nach der Vorstellung zu Hause durchblättern, um sich an den Abend zu erinnern.

Das Kochbuch von Sven Elverfeld schien wie gemacht für einen Selbstversuch in Sachen Hightech-Küche. Eines seiner Gerichte zu kochen, käme einer Besteigung des Mount Everest gleich. Und so näherte ich mich dem Vakuumkochen wie ein Bergsteiger der dünner werdenden Luft – mit langsamen Schritten.

Wäre ich vorher mit echtem Horror-Vacui geschrumpft, gewann jetzt die Neugierde, ob aus dem Experiment ein Horrortrip des Sous-vide-Kochens werden würde.

„Lammrücken vom Müritz-Hof pochiert in gewürzter Knoblauchmilch, Paprika, Käferbohnen und Ricotta“ soll der Test sein. Das Gericht besteht aus neun Einzelrezepten, die auf dem Teller zusammenkommen: Knoblauch und Gewürzmilch, Lammrücken, Bohnenbutter, weißes Bohnenpüree, Bohnenspirale, Ricottabällchen, Paprikastreifen, Lammjus und Olivenölkrokant.

Lamm und Bohnen sind eine wunderbar klassische Kombination. Kopfzerbrechen bereitete die Ausrüstung für dieses Gericht: Die Bohnenbutter benötigt einen Hochgeschwindigkeits-Eiskratzer für Tiefkühlkost von Pacojet; ein Thermomix für die Ricottabällchen; Ein Vakuumierer und ein Fusion Chef, der computergesteuerte Tauchsieder mit Umwälzpumpe von Julabo, dienen der Zubereitung des Lammrückens bei niedrigen Temperaturen.

Ich habe keines der aufgeführten Geräte. Eine kurze Recherche im Internet ergab einen grob geschätzten Investitionsbedarf von 7.000 Euro. Thermomix und Pacojet waren die ersten Opfer auf meiner Streichliste. Ein ungefähres Ergebnis sollte auch mit einem Stabmixer und Ausdauer erreichbar sein.

Der Reiz dieses Rezepts liegt in der Anwendung der Sous-Vide-Technik. Ich war nicht nur Chef der Fusion, sondern habe mir auch Vakuumierer von zwei Firmen ausgeliehen. Von der Firma Lava der V.333, eines der technisch anspruchsvollsten Haushaltsgeräte, von der Firma Henkelmann der Mini Jumbo, ihr kleinstes professionelles Küchengerät.

Die Geräte arbeiten nach zwei unterschiedlichen Methoden. Beim Haushaltsgerät wird die Luft direkt aus dem Vakuumbeutel abgesaugt. Beim Profigerät wird der Beutel in eine Kammer gelegt, in der ein Vakuum die Luft aus dem Beutel drückt. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Methoden liegt in ihrer Fähigkeit, Flüssigkeiten im Beutel vakuumversiegeln zu können.

Das Haushaltsgerät würde die Flüssigkeit in die Vakuumpumpe saugen und diese dadurch zerstören. Für das in der Gewürzmilch gekochte Lamm hatte ich ein Problem mit dem V.333.

Vakuumierer sind wunderbare Entertainer, wie ich herausfand. Die Kinder in der Nachbarschaft konnten von den beiden Maschinen nicht genug bekommen. Diverse Spielzeuge mussten vakuumiert werden, nur um zuzusehen, wie sich die Tüten langsam wie eine zweite Haut umhüllen und einfrieren.

Ich habe mich der Sous-Vide-Technik mit kleinen Versuchsreihen angenähert. Eine 36 Stunden gepökelte Rinderschulter im Beutel wurde mit dem Julabo Fusion Chef sechs Stunden bei 90 Grad gegart, ähnlich verfuhr ich mit einem mit Sonnenblumenöl und Lorbeer gewürzten Schweinebauch.

Es stellte sich sofort heraus, dass das Haushaltsgerät eine kleine Menge Öl ansaugte. Ich habe vom Hersteller den Tipp bekommen, das mit der Marinade überzogene Fleisch vorher in Frischhaltefolie zu wickeln. Da die Fleischstücke in engem Kontakt mit der Marinade im Beutel standen und schonend gegart wurden, entwickelten sie ein unvergleichliches Aroma.

Der computergesteuerte Tauchsieder, den man einfach in einen sehr großen Topf schraubt, kocht das Fleisch exakt auf die Temperatur mit einer Toleranz von 0,2°C. Nur die verlockende Vorstellung, dass man den Julabo morgens einschalten und wieder reinkommen könnte der Abend und - Simsalabim, alles war erledigt, stellte sich als unrealistisch heraus.

Durch die ständige Erwärmung erfolgt über einen langen Zeitraum eine Verdunstung, so dass der Wasserstand nach einiger Zeit unter das Minimum sinkt und sich der Julabo abschaltet. Für so viel Hightech war die Maschine jedoch einfach zu bedienen und nach Gebrauch platzsparend zu verstauen.

Meine Testreihe bestätigte auch meine Vorahnung, dass ich ohne den Mini Jumbo von Henkelmann für das Lamm in der Gewürzmilch nicht auskommen würde, da das Volumen der Flüssigkeit nicht mit Frischhaltefolie zu bändigen war.

Für die Zubereitung des Gerichts habe ich endlich echte Voraussetzungen geschaffen und mich für den folgenden Abend zu Gästen eingeladen. Beim Abarbeiten der Einkaufsliste entstand der Stress von selbst.

Nachdem ein paar Gemüsehändler nach Bohnenkraut gestöbert hatten, entschied ich mich für den letzten Ausweg der Hobbyköche: den Gourmet-Supermarkt Frischeparadies in München. Es war mir egal, dass ich dafür 200 Kilometer fahre.

Eigentlich sollte man hier alles bekommen, aber das für die Ricottabällchen benötigte Alginat und ihr Sortiment an molekularen Produkten hatten sie aus ihrem Sortiment genommen. Also bestellte ich das Pulver online per Express für den nächsten Tag.

Hinter den Pfeilen mit der Aufschrift „siehe Grundrezept auf Seite XX“ verbargen sich weitere Fallstricke in den auf den ersten Blick recht simplen Rezepten. Viele der Zutaten in dem Gericht erforderten entweder Lamm- oder Geflügelbrühe. Ich sah mich weder in der Lage, die dafür benötigten Knochenmengen zu produzieren noch zu bewältigen. Also habe ich mir die Konzentrate von einer dänischen Firma geholt, die mir ein befreundeter Hobbykoch mit den Worten "sie haben es in sich" empfohlen hatte.

Auch das Olivenöl Krokant, dessen Rezeptur hinter einem Pfeil versteckt war, musste ich streichen, weil die benötigten Zutaten Isomalt, Glucose und zwei „Texturas“ aus der gleichnamigen Produktlinie von Ferran Adrià zu kompliziert in der Beschaffung und Anwendung erschienen.

Der Rest der Rezepte reichte aus, um mich einen Tag lang zu beschäftigen. Bei einigen Zutaten habe ich einfach die falsche Jahreszeit gewählt. Flache grüne Bohnen, die für das Rezept mit einem Sparschäler geschält werden sollten, konnten nicht gefunden werden. Es gab nur Keniabohnen, die sich nicht schälen ließen.

Die zusammengesteckten Bohnenkrautstängel reichten bei weitem nicht aus, also musste ich getrocknete nachfüllen. Das Alginat blieb in der Post hängen, und so wurden meine Ricotta-Kugeln zu leicht krümeligen Sahnetupfern, weil ihnen das kugelförmige Alginat-Bad fehlte. Mit dem Thermomix wären sie glatter geworden.

Ich habe es wirklich bereut, den Pacojet nicht mitbestellt zu haben. Das hätte aus der herzhaften Butter einen hübschen grünen Streifen gemacht. Stattdessen verunstaltete das getrocknete Bohnenkraut die Masse.

In der letzten Phase der Vorbereitung hätte ich auch gerne eine Küchenbrigade hinter mir gehabt. Wenn man neun verschiedene Dinge im Hinterkopf behält, kann das einen Hauskoch an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen.

Auch wenn ich vor Erschöpfung ein wenig auf der Zielgeraden herumfummelte - Punktabzug für meine Bedienung - hat es meinen Gästen gefallen. Denn auch wenn die Konsistenz nicht überall perfekt war, schmeckte das Lamm aus seiner gewürzten Milch einfach sensationell. Zusammen mit den Bohnen, Paprikastreifen und Ricottabällchen war es auch in meiner rustikalen Variante eine überzeugende Komposition.

Besorge ich mir deshalb jetzt die notwendigen Maschinen? Das glaub ich nicht. Für das Geld gehe ich lieber einmal im Jahr fürs Leben zu "Aqua". Und dann schau dir die Fotos im Kochbuch an.

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