Plastikmüll: Wie nachhaltig sind die Händler wirklich? - DER SPIEGEL

2022-04-21 08:01:32 By : Ms. Sales Seven Sfenry

Sie soll aus endlich aus Supermärkten verschwinden: Einzelverpackungsfolie für Gurken

Zumindest die Skrupel sind an der Gemüsetheke eines Hamburger Bio-Supermarkts klar erkennbar. "Diese Produkte sind leider noch nicht in einer plastikfreien Verpackung erhältlich", steht auf der Kiste mit dem in Folie gehüllten Eisbergsalat.

Auch Bärlauch, Möhren und Paprika sind in Plastik verpackt. Wer zu losem Gemüse greift und dafür eine Papiertüte nehmen möchte, dem leuchtet darauf in blauem Aufdruck die Frage entgegen: "Brauchst Du mich wirklich?"

Zwar ist der überwiegende Anteil von Obst und Gemüse in diesem Bio-Supermarkt unverpackt. Doch nicht einmal hier schafft man es, komplett ohne Plastik auszukommen. In normalen Supermärkten greifen die Verbraucher bei der Obst- und Gemüsetheke ohnehin immer noch gern zum Plastikbeutel, wie Zahlen des Bundesumweltministeriums zeigen. Immerhin gibt es die dünnen Knotentüten inzwischen nicht mehr überall.

Denn beinahe alle Handelsketten haben das Thema Plastikvermeidung für sich entdeckt. Aldi, Lidl, Rewe, Edeka und Co. überbieten sich regelrecht mit Ankündigungen beim Aussortieren von Plastik.

Folgende Vorhaben haben so gut wie alle Händler auf ihrer Liste. Konkrete Zielvorgaben variieren je nach Unternehmen:

Bei Strohhalmen und Einweggeschirr wollen die Ketten sogar der Politik voraus sein. Die EU hat ein Verbot vieler Wegwerfprodukte ab 2021 beschlossen. Aldi, Lidl und Netto wollen schon vorher Vollzug melden.

Bislang steigt der Verbrauch von Kunststoff stetig. In Deutschland hat sich der Plastikmüll seit 1994 fast verdoppelt, auf inzwischen rund sechs Millionen Tonnen pro Jahr.

Unterschiedliche Strategien bei der Gurke

Die Deutschen frönen zwar als eine Art Ausgleich mit großer Hingabe dem Mülltrennen, doch das Recyclingsystem kann das Problem nicht lösen. Denn nicht alles, was recycelt wird, kommt automatisch in eine nützliche Wiederverwertung. "Wir haben kein Entsorgungsproblem", sagt Henning Wilts, Abfallexperte am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie. Das Problem sei, was aus dem recycelten Material gemacht werde. Nur zwölf Prozent des in Deutschland eingesetzten Kunststoffs komme aus dem Recycling. Das heißt umgekehrt: Der allergrößte Teil der Kunststoffprodukte wird noch immer energie- und rohstoffaufwendig mit Erdöl hergestellt.

Technisch sollte eine Wiederverwertung von Plastik eigentlich machbar sein, sagt Wilts. Aber gerade komplexe Kunststoffverbindungen seien aufwendig zu recyceln, dieses Plastik gehe dann oft einfach in die Verbrennung. Als Beispiel dafür nennen Umweltschützer Verbundpackungen für Käsescheiben.

Chemiker: "600 Chemikalien in einem Joghurtbecher sind irre"

"Die Verpackung ist das Symbol für die Wegwerfgesellschaft", sagt Abfallexperte Wilts. Auch deshalb besetzen die Handelsketten das Thema Plastik wohl so öffentlichkeitswirksam. Wie nachhaltig die Strategien der einzelnen Unternehmen tatsächlich sind, ist selbst für Experten schwer einzuschätzen. "Es ist sehr verwirrend", sagt Wilts über die verschiedenen Maßnahmenkataloge und ihre Wirkungen.

Ein Beispiel hierfür ist die Salatgurke:

Ohne Plastik ändere sich oft die Logistik, sagt Abfallexperte Wilts. Untersuchungen hätten gezeigt, dass es nachhaltiger sei, Gurken aus der Region ohne Plastik anzubieten, wenn nicht mehr als sechs Prozent weggeworfen werden.

Für den Verbraucher ist also schwer einzuschätzen, ob die Aldi-Gurke ohne Plastik wirklich nachhaltiger ist, oder ob am Ende Lidl durch Transport, Logistik und Produktion weniger Ausschussware und eine bessere CO2-Bilanz hat.

Entscheidend für Nachhaltigkeit seien drei Faktoren, erklärt Wilts:

So sei bei Rindfleisch am Ende eine gute Verpackung nachhaltiger, wenn sonst das mit hoher CO2-Bilanz produzierte Fleisch weggeworfen wird. Bei Kiwi und Avocado kann auch ein Bio-Siegel den Transportweg nicht wettmachen. Und wer den Lieferservice nutzt oder sich mit dem Auto Obstsalat in Plastikschale und mit Folie drumherum holt, trägt ebenfalls nicht zum Umweltschutz bei.

Nachhaltigkeit verlangt also allen etwas ab: Herstellern, Händlern und Verbrauchern.

Der Handel steht dabei meist im Fokus. Oft sei der Transport mit Plastik günstiger und bequemer, sagt Abfallexperte Wilts. "Im ersten Schritt kostet die Unternehmen die Plastikvermeidung etwas." Dennoch könne sich der Einsatz für den Handel lohnen. Einerseits können die Ketten Pluspunkte bei den Kunden sammeln, andererseits aus dem Recycling sogar ein Geschäft machen.

Die Schwarz-Gruppe, zu der Lidl und Kaufland gehören, ist hier ihren Wettbewerbern voraus. Sie hat das Entsorgungsunternehmen Tönsmeier übernommen und steigt damit voll ins Müllgeschäft ein. Auch die Lizenz für ein eigenes duales System (das bekannteste ist der Grüne Punkt) hat die Schwarz-Gruppe beantragt. Wenn die Behörden grünes Licht geben, kann das Unternehmen seine eigenen Verpackungsabfälle günstiger verwerten und dies gegen Gebühren auch noch für andere übernehmen. Denn beim dualen System entrichten Hersteller und Einzelhändler eine Gebühr für die Entsorgung - und legen es in der Regel auf die Preise um. Etwa 13 Euro zahlt so jeder Verbraucher in Deutschland dafür jährlich.

Umweltexperten sehen es grundsätzlich positiv, dass die Schwarz-Gruppe als Müllverursacher sich auch beim Entsorgungsmanagement engagiert. Schließlich stammt Schätzungen zufolge etwa ein Zehntel des Verpackungsmülls im deutschen Handel von Lidl. Die Experten warnen aber auch davor, dass der Handelskonzern damit noch mächtiger wird und seine Lieferanten dazu bringen könnte, auch die Verpackungsentsorgung über die Schwarz-Gruppe abzuwickeln.

Teil der Lidl-Strategie ist es auch, den Einsatz von Rezyklaten zu steigern. Das sind wiederverwertbare Kunststoffbestandteile. Nach eigenen Angaben hat der Discounter schon heute beim stillen Mineralwasser seiner Eigenmarke einen Rezyklatanteil von 100 Prozent. Das bedeutet, dass jede dieser Wasserflaschen ausschließlich aus recyceltem PET besteht, sodass kein neuer Kunststoff für die Herstellung benötigt wird.

Manchmal ist Plastik die bessere Alternative

Umwelt- und Abfallexperten fordern, dass die Verpackungsindustrie gerade beim Rezyklatanteil vorankommen muss. Hier müsse auch die Politik deutlichere Vorgaben machen. Kritisch sehen Umweltschützer die Bestrebungen vieler Händler, auf Ersatzprodukte für Plastik auszuweichen. Damit werde oft nur ein Bild der Natürlichkeit vorgegaukelt.

"Papierproduktion ist auch umweltschädlich", sagt Katharina Istel vom Naturschutzbund Nabu. Plastik sei manchmal sogar die umweltschonendere Variante. "Man muss kein schlechtes Gewissen haben, wenn man Ketchup in der Plastikflasche statt im Einwegglas kauft", nennt Istel ein Beispiel. Bei Glas sei die Herstellung energieintensiv, und beim Transport gebe es hohe CO2-Emmissionen. Darum sei Glas nur bei kurzen Lieferwegen und im Mehrwegsystem nachhaltiger.

Eine Faustregel sei zudem: Obst und Gemüse lose kaufen und Fleisch, Wurst und Käse möglichst an der Bedientheke holen.

Auch Mülltrennung mache nur Sinn, wenn sie konsequent erfolgt. Ein Beispiel ist der Joghurtbecher mit Pappummantelung: Aludeckel vom Plastikbecher trennen und beides in die Wertstofftonne. Die Pappe muss ins Altpapier. Werden nämlich die drei Komponenten nicht einzeln entsorgt, geht die Verpackung in die Verbrennung.

(Hier finden Sie Tipps des Nabu zu Abfallvermeidung und Recycling.)

Istel sieht die Anti-Plastikstrategie der Handelsketten als langwierigen Prozess. "Es braucht Zeit, bis das ganze Sortiment durchforstet ist."

Sogar die Bio-Handelskette Alnatura muss ihre umweltbewussten Kunden beim Thema Verpackung manchmal noch überzeugen. So bietet der Händler dieselbe Tomatensoße im Glas und im Verbundkarton an - und erklärt den Kunden zugleich, dass der Karton im Vergleich zum Glas einen rund 63 Prozent geringeren CO2-Fußabdruck hat. Wegen der großen Masse an Verbundkartons, die insgesamt eingesetzt werden, lohnt sich hier für die Entsorger das Recycling. Zudem kommt das eingesetzte Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft.

Trotzdem ist der Bio-Kundschaft das Glas oft sympathischer. "Wir wollen unsere Kunden nicht missionieren. Aber wir wollen erklären, warum wir was tun", sagt Alnatura-Sprecherin Stefanie Neumann. "Das wichtigste ist, das Produkt so zu schützen, dass es nicht verdirbt."

Veränderungen bei Verpackungen seien aber oft eine große Investition - vor allem für die Hersteller. Denn diese müssen ihre Maschinen umstellen. Neben der Logistik seien auch die Kunden eine Herausforderung, sagt Neumann. Bei Obst und Gemüse muss auch die Bio-Kette genau überlegen, wie die Ware angeboten wird. Manche Kunden finden lose Äpfel unhygienisch, weil sie vielleicht von mehreren Kunden angefasst und zurückgelegt wurden.

IM VIDEO: Ein Leben (fast) ohne Plastik

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