Fachkräftemangel der Gastronomie​: Der schönste Nebenjob der Welt​

2022-08-14 06:35:58 By : Mr. Jack Ma

Bestellungen aufnehmen, Tische abräumen, Servieren – warum das nur die offensichtlichsten Anforderungen beim Kellnern sind. Und warum man in Kneipen, Bars und Restautant fürs Leben lernt. Eine Liebeserklärung.

Morgens gegen fünf, wenn die unerbittlich gleißenden Sommersonnenstrahlen beginnen, noch die trübsten Bleiglaskneipenfenster zu durchdringen, hat man es geschafft. Gespülte Gläser werden poliert, die Übriggebliebenen vom Thresen aus beäugt: Zwei, drei Gäste, die sich über den letzten Schluck des schal gewordenen Biers beugen, allein oder in Begleitung, in die Augen ihres Gegenübers starren oder ins Nichts. Die sinnieren über die jüngste Liebe oder den nächsten Meistertitel ihres Vereins. Den Weltfrieden haben sie längst beschlossen und sind bereit für die letzte große Herausforderung: ihren Heimweg. Der Geruch der Nacht wird sie begleiten, er hat sich in die Kleidung gefressen, sich angeschmiegt wie eine zweite Haut, eine Mischung aus kaltem Rauch, Bierdunst und einer Sorglosigkeit, wie sie nur nachts zu spüren ist, am nächsten Morgen nicht mehr, niemals.

Der Geruch der Nacht ist das eine, was Gäste und Gastgeber eint. Der sich nicht abstreifen lässt wie die Stoffschürze oder der Ledergürtel mit der großen Geldbörse, die ja nötig ist, weil immer noch vorwiegend Bares Wahres ist im deutschen Kneipenkosmos, verknitterte Scheine über alte Holztische geschoben werden statt seelenloses Plastikgeld. Als Kellnerin und als Kneipengast jedenfalls, und das ist die zweite Parallele, glaubt man in Morgenstunden wie diesen, die Welt verstanden zu haben. Jeder auf seine Weise. Denn hinter dem Tresen ahnte man längst, wer die Runde Sambuca besser hätte überspringen sollen. Wer mit seinen Flirtversuchen scheitern würde. Und wer der oder die Letzte an diesem Abend sein würde.

In einer Gaststätte zu kellnern, als sogenannte Fachkraft in der Gastronomie tätig zu sein, wie es sachlich korrekt heißt, ist eben genau das nicht: Immer sachlich korrekt sein. Selbstverständlich gibt es grundlegende Anforderungen in der Gastronomie und spezielle Herausforderungen in jedem einzelnen Betrieb. Es ist ein zweijähriger Ausbildungsberuf, bei dem man ab dem 1. August 2022 sogar Schwerpunkte wählen kann zwischen Restaurantservice und Systemgastronomie, in dem man aufsteigen und Verantwortung übernehmen kann. Und dennoch ist dieser Job, in dem nach zwei Jahren Pandemie so viele Kräfte fehlen wie noch nie, nicht bloß irgendein Job.

Jetzt ist es vor allem ein Job, in dem Arbeit zu finden ist. Eine Ausbildung oder einen Schulabschluss braucht es hier grundsätzlich nicht, freie Stellen gibt es genug. Zu Jahresbeginn wurde deutlich, wie sehr eine ganze Branche unter der Corona-Zwangspause gelitten hat: 2020 sank die Zahl der Beschäftigten in der Gastronomie um 23,4 Prozent, also um fast ein Viertel im Vergleich zum Vorkrisenjahr 2019, teilte das Statistische Bundesamt im Januar mit. Besonders hart hat es demnach die Beschäftigten von Bars und Kneipen getroffen: Hier musste seit 2019 fast die Hälfte (44,7 Prozent) der Belegschaft gehen . Betriebe mit Essensangebot mussten jede fünfte Kraft entlassen, am sichersten waren die Jobs noch bei Caterern. Zu spüren ist das nun von der Ostsee bis ins Allgäu – mit langem Warten und mittelmäßigem Service müssen sich Urlauber oft zufrieden geben. Draußen nicht mal Kännchen.

Kellnern, das bedeutet in der Stellenanzeigen-Theorie: Empfangen, Betreuen und Beraten von Gästen. Herstellen und Servieren von Speisen und Getränken. Bedienen von Kassen- und Bezahlsystemen. In der Realität sind ganz andere Fähigkeiten gefragt. Solche, von deren Bedeutung man bis dahin nichts ahnte, die nie wirklich erprobt und gebraucht wurden – und von denen man doch ein Leben lang zehren kann.

Jeder ist einmal Gast, die wenigsten aber sind zur Servicekraft geboren. Was nicht heißt, dass dieser Job nur für eine Minderheit infrage käme. Im Gegenteil: Er lehrt die vor allem für jüngere Menschen so grundlegenden Dinge wie Pünktlichkeit, Höflichkeit, Genauigkeit. Dafür braucht es nicht einmal einen Ausbildungsplan, das weiß jeder, sobald er einmal 50 Cent zu viel berechnet hat. Doch von vorne.

Was unmittelbar geschieht, einem aber erst viel später klar wird, ist die unverzügliche Trennung zweier Welten bei Schichtbeginn: Mit dem Eintritt in die Gastrowelt, dem Eintauschen der Alltags- gegen die Dienstkleidung übertritt man die Grenze der einen Hemisphäre zur anderen. Die Schürze mag noch nicht ganz umgebunden sein, da raunt es schon von Tisch 27: „Frollein, könnten wir vielleicht jetzt mal bestellen?“, gern auch mit erhobenem Arm oder – seltener, aber nicht gänzlich ausgestorben – mit begleitendem Fingerschnipsen. Geduld, das ist eine der ersten Lektionen der Gastronomie, ist eine Tugend. Und Gelassenheit nur in bedingtem Maße hilfreich.

Eine gute Servicekraft ist flink, eifrig, engagiert, freundlich, geschickt, zuvorkommend, verlässlich, hilfsbereit und belastbar. Eine sehr gute Servicekraft kann mit Menschen umgehen. Denn ob Riesenrestaurantkette oder inhabergeführte Eckkneipe, Sternegastronomie oder Spelunke – Menschen gehen aus, um auf andere Menschen zu treffen. Sie nehmen es zumindest in Kauf. Es geht ihnen nicht allein um das perfekt garnierte Schaumsüppchen, das exakt gekühlte Glas Grauburgunder oder das makellos gezapfte Weißbier. All das könnten Maschinen tun oder Roboter, wie es in manchen hippen Bars im Hamburger Schanzenviertel etwa schon getestet wird. Gästen geht es um Gastfreundschaft. Und die lässt sich nicht programmieren. Sie besteht auch darin, auf Menschen einzugehen, ihr Wesen zu erahnen, ihre Bedürfnisse, mal freundlich-sensibel, mal humorvoll, mal forsch und frech. Es geht darum, ihre Wünsche zu erfüllen, sich dabei nicht alles gefallen zu lassen und trotzdem seiner Rolle gerecht zu werden: als Dienstleister.

Der Begriff allein mag abschreckend sein: Dienst und Leistung – das klingt nach Mägden und Knechten, nach Ackern und Buckeln, nach wenig Pausen und viel Schaffen. Keine Frage: Exakt so ist es meist. Kellnern ist ein Knochenjob, er fordert den Rücken, die Füße, die Beine, die Arme und je nach Schichten den gesamten Schlafrhythmus. Nach acht Stunden weiß man, was man getan hat. Nicht die schlechteste Ergänzung zu Hörsaal, Bibliothek und heimischem Schreibtisch. Überhaupt als Student oder Studentin zu kellnern – und so viel lässt sich nach acht Jahren eigener Erfahrung sagen – ist der schönste Nebenjob der Welt. Wer je den Berufswunsch „was mit Menschen“ erwägt, sollte kellnern. Nirgends menschelt es mehr, kommen mehr Menschen unterschiedlichster Art zusammen.

In Kneipen etwa die Barhocker (männlich wie weiblich), die vorzugsweise zur gleichen Zeit an gleichen Tagen erscheinen, stets alleine sind (maximal Lektüre als Begleitung) und immer dasselbe bestellen. Sie brauchen nicht viel, mögen Ruhe, aber dann und wann ein aufrichtiges, wenn auch oberflächliches „Na, wie isset denn?“. Dann gibt es die Junggesellenabschiede und Kegelklubs (Männer wie Frauen), die Stimmung machen, Trinkspiele oder Tänze aufführen, lachen, grölen, laut sind. Sie müssen nicht unterhalten werden – sie unterhalten. Die Stummen, die Stimmungsmacher und Charaktere egal welcher beruflichen oder sozialen Herkunft sind es, die sich eine Kneipe teilen, einen Abend, ein Erlebnis. Da trinkt der Bauarbeiter mit dem Patentanwalt, die Ärztin mit der Arbeitslosen.

Auf der anderen Seite das Personal, als Gegenpart oder Teil des Ganzen, beides ist möglich. Mal trinkt man einen mit, mal wischt man bloß weg. Kellner sind Diener am Gast, manchmal aber auch Regisseure der Nacht. Sie können die Stimmung heben und senken, auch und vor allem untereinander. Was alles zusammen den Job ebenfalls zum schönsten der Welt macht. Bar, Küche, Service – funktioniert nicht alles wie aus einer Hand, funktioniert gar nichts. Große Hierarchien gibt es nicht, oft einen Schichtleiter und viele Eigenbrötler. Wer kümmert sich um die Kaffeebestellungen, wer übernimmt die Cocktails? Das eine Essen ging an den falschen Tisch, das andere fehlt komplett. Organisationstalent, Konfliktmanagement und Stressresilienz sind Eigenschaften, ohne die keine Gastrokraft auskommt – und die so vielen Menschen in anderen Berufsfeldern später fehlt.

Trotz oder gerade wegen dieses Wahnsinns sind Servicekräfte eine eigene, zumeist ziemlich sympathische Spezies. Resistent, schlagkräftig, witzig, aufgeschlossen – klar finden sich selten Bekanntschaften schneller als in der Gastronomie. Manchmal Freundschaften fürs Leben. Das erste kühle Getränk nach dem letzten der Gäste am Ende der Schicht jedenfalls verbindet, macht zufrieden, stolz und einem bewusst, dass man immerhin dort arbeitet, wo andere am liebsten ihre Freizeit verbringen.

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