Gefälschte Handtaschen und Uhren: Wer hinter der Fake-Ware steckt | STERN.de

2021-12-27 17:55:35 By : Ms. helen lee

Am besten läuft Michael Kors. Kleine Umhängetaschen, große Shopper, immer mit goldenem MK-Logo darauf. Daneben die Chanels, die Guccis, die Pradas, aufgereiht auf einem weißen Laken auf dem Boden, alle jetzt zum "very good price", wie der Verkäufer zu einer Engländerin in langem Sommerkleid sagt. 25 Euro die großen, zehn Euro die ganz kleinen. Aber weil sie heute Morgen die erste Kundin sei, bekomme sie von ihm einen "very special price". Er nimmt die Tasche in die Hand, die sie fixiert hat, eine schwarz-weiß gestreifte, zeigt die Innentasche. Aber die Frau ist schon gegangen – schnell ab zum Strand.

Die Straßenverkäufer, die auf ihren Decken gefälschte Handtaschen, Turnschuhe und Uhren anbieten, gehören zum festen Bild der Touristenorte rund ums Mittelmeer. Sie tummeln sich in Venedig und Rom, auf Mallorca und Ibiza. In Barcelona sind es in diesem Sommer besonders viele. Die Reihe am Port Vell, dem Yachthafen, wird jeden Tag länger: bis zu 100 Decken dicht an dicht. Hinter jeder davon ein Verkäufer, fast alle Senegalesen. "Manteros" werden sie genannt, von "Manta", dem spanischen Wort für Decke.

Aziz mag es nicht, die Leute mit "Hello, Lady!" oder "Hello, Mister!" anzulocken, wie es die anderen manchmal tun. Er wartet lieber, bis sie von sich aus bei seiner Auslage stehen bleiben. Aziz verkauft Uhren. Rolex, Dolce & Gabbana, A. Lange & Söhne. Das jedenfalls steht drauf. Preis: im Schnitt 15 Euro. Zwei Italiener wollen ihn auf zehn Euro für eine goldene Rolex runterhandeln, daran würde er noch drei Euro verdienen. Er schüttelt den Kopf, „not possible“, und legt die Uhr zurück an ihren Platz, die Italiener ziehen weiter.

Angefangen hat der 32-Jährige mit Tüchern und Barcelona-Fan-Schals, aber seit ein Polizist vor ein paar Jahren mit einem Knüppel sein Knie zertrümmerte, kann Aziz sein Bein nicht mehr belasten und ist auf Uhren umgestiegen. "Sie wiegen weniger", sagt er. Und sie passen in seinen Rucksack. "AC/DC – Rock or Bust" steht darauf. „Rocken oder kaputtgehen“ – das fasst sein Leben ganz gut zusammen.

Im Senegal hatte Aziz mit elf Jahren angefangen, in einer Näherei zu arbeiten, danach war er Fischer geworden, doch zum Leben reichte es kaum. Zu Hause erzählte man sich, in Spanien suchten sie Arbeitskräfte. Es war die Zeit des Baubooms. Der Immobilienblase, wie sich später herausstellte. Aziz hatte auch gehört, in Europa gebe es keine Korruption, alle würden gleich behandelt. Und so stieg er 2007 auf ein Flüchtlingsboot nach Teneriffa, schlug sich von dort nach Barcelona durch – und landete bald auf dem Boden der Tatsachen.

Ein halbes Jahr lang versuchte Aziz, einen Job auf dem Bau zu bekommen. Aziz ist groß, hat kräftige Arme. "Am Ende des Tages zahlten sie manchmal zehn Euro und jagten uns Illegale zum Teufel", erzählt Aziz. Ohne Papiere kein Arbeitsvertrag. Papiere bekommt, wer drei Jahre gemeldet ist. Sozialhilfe gibt es nur für die, die ordentliche Papiere haben. Eine Zeit lang fütterten ihn Freunde durch, dann begann Aziz, auf der Straße nachgemachte Ware anzubieten. "Immer noch besser, als Drogen zu verkaufen oder Handtaschen zu klauen", sagt er. Aber arbeitet er so nicht auch für eine Mafia? Für die Mantero-Mafia? Aziz lacht. Ja, das heiße es immer wieder, sagt er, "aber es gibt keinen Oberboss, der am Abend mit dem Klingelbeutel die Decken abläuft". Jeder Verkäufer arbeite auf eigene Rechnung. Jeder für sich – und doch halten die Manteros zusammen. Wenn einer nicht über die Runden kommt, teilen sie ihr Essen, ihre Wohnung, ihre Ware. Hat ein Händler nicht die passende Größe des "YeezySchuhs" von Adidas, wird er von einer anderen "Filiale" ein paar Decken weiter geliefert. Hauptsache, einer von ihnen macht das Geschäft mit dem Touristen.

Badalona-Süd ist einer der Stadtteile von Barcelona, in die sich kein Tourist verirrt. Heruntergekommene Wohnblocks, alte Autowerkstätten, Lagerhallen aus billigem Backstein. Die chinesischen Großhändler, bei denen die Straßenverkäufer ihre Ware kaufen, sitzen größtenteils in der Carrer del Progrés, der "Straße des Fortschritts". Immerhin für die Chinesen trifft dieser Name zu; ihre Porsche Cayennes und Audis parken auf dem Mittelstreifen.

Montagmorgens sieht man die Manteros in den Geschäften verschwinden und mit großen weißen Plastiksäcken auf dem Rücken wieder herauskommen. Meistens wird für Kollegen miteingekauft, weil die Chinesen nicht unter 100 Euro oder 50 Stück verkaufen. „Only wholesale!“ – nur Großhandel!, rufen die jungen Chinesinnen eilig, wenn sich Fremde durch die großen Glastüren wagen. Die Hüter des Fortschritts stehen an der Kasse. Sie gehen nur gelegentlich zum Ausspucken vor die Tür.

Einer der Schuhhändler hat in der Auslage Sandalen mit Schmucksteinen stehen. Die schwarzen und geblümten Nikes, die man am Hafen häufig sieht, werden bei Bedarf aus dem Hinterzimmer geholt und aus den Kartons direkt in den Tüten der Manteros verstaut. Ein paar Türen weiter stapeln sich Tausende Handtaschen in den Regalen, alle "Made in China", doch von gefälschten Logos keine Spur. Sogenannte weiße Ware zu verkaufen, Modelle, die Luxustaschen nur ähneln und nicht mit Labels versehen sind, ist nicht strafbar. Das Zubehör gibt es deshalb extra dazu, unter dem Ladentisch. Später, am Hafen, kleben die Manteros die Logos im Schutz eines Baumes mittig auf die Taschen. Man entdeckt auf den Decken die gleichen Beutel und Portemonnaies mal mit Prada-, mal mit Michael-Kors-Logo. Niemand strengt sich an, so zu tun, als seien das tatsächlich echte Modelle aus Mailand und Paris.

Ein Luxushaus hat die Decken-Händler einmal wegen Markenrechtsverletzung verklagt. Die Klage wurde abgewiesen – mit der Begründung, die Taschen seien leicht als Fälschungen zu identifizieren. Wer bei den Manteros kauft, will ein billiges Souvenir erstehen und ein Logo spazieren tragen, das er sich eigentlich nicht leisten kann. Am Hafen weisen Schilder darauf hin, dass der Erwerb der gefälschten Produkte mit 50 Euro Bußgeld geahndet werde. Doch für viele ist ein Gucci-Täschchen für 20 Euro zu verlockend.

Die Szenerie am Hafen ist eine Parabel auf die komplizierte globalisierte Welt. Hinten die Yachten mit Heliport, davor der Billigbasar mit den afrikanischen Verkäufern, keine zehn Meter entfernt die Polizisten neben ihren Motorrädern. Sie können großzügig dulden – oder zuschlagen.

Die Händler machen sich doppelt strafbar: weil sie Kopien verkaufen und weil sie ihren Straßenhandel ohne Lizenz betreiben. Sie zahlen auch keine Miete – anders als die Kunsthandwerksstände ein paar Meter weiter und die Geschäfte am Strand. Früher hat die Polizei die Manteros regelmäßig verscheucht, erzählt Aziz. Vor allem vom Prachtboulevard Passeig de Gràcia. "Sie haben uns gejagt, bis wir im Schutz der Metrostationen verschwanden." Dort unten dürfen die Polizisten nicht einschreiten: Barcelona ist eines der TopTouristenziele Europas, unschöne Szenen kann man nicht gebrauchen.

Am Plaça de Catalunya im Zentrum und am Hafen lässt die Polizei die Manteros momentan gewähren. Trotzdem haben viele Verkäufer Schnüre an den Enden ihrer Decke befestigt, damit sie sie wie ein Netz hochziehen und wegrennen können.

"Je nach Lust und Laune kommen die Polizisten und nehmen uns alles ab" , erzählt Papa Diop. Der 37-Jährige sitzt in seiner Wohnung im Stadtteil Besòs, einem der ärmsten Viertel der Stadt. Er ist 2009 aus dem Senegal geflohen. Über sein Sofa hat er eine Decke mit Elefanten gespannt. Viele Touristen kaufen diese Art Decken bei den Manteros, um sich darauf am Strand zu sonnen. Die Elefanten von Papa Diop haben noch nie die Sonne gesehen. Die Wohnung liegt im dunklen Erdgeschoss.

Mit der rechten Hand hält er sich den Nacken. Heute Morgen war er am Passeig de Gràcia vorbeigekommen, hatte ein paar seiner Landsleute auf ihren Decken gesehen und sie warnen wollen, dass es zu gefährlich sei, hier zu verkaufen. Doch da waren schon vier Zivilpolizisten zur Stelle und nahmen nicht die anderen in die Mangel, sondern warfen Papa zu Boden, verdrehten ihm den Hals, nahmen ihm den Rucksack mit all seiner Ware ab, Barcelona-Shirts und -Hosen, sieben Stück. Auf der Straße des Fortschritts ein Einkaufswert von knapp 70 Euro – verkauft hätte er sie für 25 Euro das Set.

Papa glaubt, die Polizei habe ihn im Visier. Er hat mit einigen anderen Manteros das "Sindicato Tras la Manta" gegründet, eine Art Gewerkschaft der Straßenverkäufer. Sie wollten auf ihre Situation aufmerksam machen. Teile der Bevölkerung unterstützen sie, sogar die linke Bürgermeisterin setzt sich ein. Aber die Situation ist vertrackt. Die Immigranten fordern Arbeitsplätze – in einer Stadt mit 100 000 Arbeitslosen. Kürzlich bekamen elf der Manteros einen Jahresvertrag auf dem Fischgroßmarkt. Bleiben laut offizieller Zählung noch rund 400. Inoffiziell dürften es deutlich mehr sein. Auch Pakistaner reihen sich neuerdings in die Schlange am Hafen ein.

Aziz sagt, es sei für ihn würdelos, auf der Straße zu verkaufen. Trotzdem lügt er seine Familie im Senegal nicht an. Damit sie versteht, warum er aus dem vermeintlichen Paradies kein Geld schicken kann. Aziz lernt schnell, sein Spanisch ist fließend. "Ich stelle viele Fragen, deshalb bin ich ein bisschen anstrengend“ , sagt er. Auch er engagiert sich mittlerweile im "Sindicato". Neulich hat ein Mantero einen Polizisten mit einem Stein verletzt. Seitdem droht die Stimmung in der Stadt zu kippen. Die Gewerkschafter fordern deshalb ihre Landsleute auf, jegliches Zusammentreffen mit der Polizei mit dem Handy zu filmen. Sonst glaube ihnen keiner. Im Senegal hätten sie jeden Gast besser als sich selbst behandelt, sagt Aziz. Würden sie hier wenigstens wie alle anderen behandelt – das wäre tatsächlich mal ein Fortschritt.

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